1996 Mr. Charly

Wallraff im Restaurant

Eigentlich macht Mr. Charly alles "richtig". Arbeitet in einer Anwaltskanzlei, hatte in Harvard und Princeton studiert, verdient 105'000 Dollar im Jahr.

Er ist mit einer Juristin und Harvard-Absolventin verheiratet und reserviert jeweils telefonisch einen Platz in einem der 10 bekanntesten Restaurants von New York. Trotzdem erhält er keinen Tisch mit Aussicht, sondern wird in der Nähe von WC oder Küchenausgang plaziert oder muss den Gesprächen vom Personalesstisch zuhören. Denn Mr. Charly ist schwarz, oder politically correct ausgedrückt, er ist Afro-American. Im realen Leben heisst Mr. Charly Mr. Lawrence Otis Graham, ist Top-Anwalt und schrieb nebenbei 10 Bücher und Artikel, die in renommierten Magazinen veröffentlicht wurden. Zum Beispiel über die Behandlung von schwarzen Gästen in den besseren Restaurants der Stadt. Statt Punkte zu vergeben über die gelungene Vermählung einer Krokodilsträne mit Schneckeneiern auf Salat oder ähnlichem, bewertete er 10 Top-Restaurants nach den Kriterien Anstarrungs-Faktor, Sitzplatz-Nähe zu WC und Küche, Plazierung im hintersten Winkel oder zum nächstem Tisch mit Weissen und zur Anzahl Gäste, die ihren Tisch nicht neben ihm haben wollten sowie zu "verlorenen" Reservationen (obwohl noch vor einer Stunde telefonisch bestätigt). Aber nicht nur die Gastgeber, auch die Gäste werden entlarvt. Denn mehr oder weniger genüsslich lässt sich nachlesen, wie Damen mit grau-toupiertem Haar ihm den Mantel übergeben möchten, wie Herren ihm den Autoschlüssel in die Hand drücken oder wie er im WC nach einem Handtuch gefragt wird. Schliesslich sind Schwarze an einer solch feinen Adresse doch eher für die Garderobe, den Parkplatz oder das WC zuständig. In einer Skala von 1 - 5 erhielten das Mortimer und das Bice 2 Punkte, Water Club, 21 Club und Le Cirque 2-3,  Four Seasons, Russian Tea Room und Rainbow Room 3, Park Avenue Cafe 3-4 und das Grenouille 4 Punkte. Im Four Seasons sind es die Touristen, die Schwarze zwangsläufig für Angestellte halten, im Water Club wurde er innert 96 Minuten einmal als Kellner, einmal als Garderobe- und einmal als Parking-Man angesprochen, das Grenouille versuchte während zweier Stunden erfolglos den Nebentisch zu besetzen, und an einem weiteren Ort wollte ein farbiger Lieferant ihm unbedingt etwas abliefern...
Ob all dieser Episoden geht fast vergessen, dass Mr. Charly auch hier existiert. Z.B. in Form der alleinstehenden Frau mit 14 Tagen Halbpension oder des fleissigen Tamilen, der es nach 10 Jahren vom Asylanten zum wohlhabenden Importeur von Asiatischen Produkten geschafft hat.

Gelegentlich nennt sich Mr. Charly auch Larry. Larry arbeitet als Busboy bzw. Busman in einem Golf Club, denn als Afro-American darf er dort nicht als Kellner wirken. Es handelt sich um einen jener edlen Clubs, in dem Schwarze selbst mit dem Papst als Bürgen nicht Mitglied werden können. So arbeitet Larry für 7 Dollar die Stunde um festzustellen, ob es an einem solchen Ort tatsächlich nobel zu und her gehe, und zwar nicht nur bei den Gästen, sondern auch hinter den Kulissen. Als Busman lernt er an der Front damit umzugehen, dass ein junger Gast mit dicker Cigarre um Erdnüsse und einen Aschenbecher bittet und ihn fragt, ob er zur Ausführung dieser Order fähig sei. Oder er hört darüber hinweg, wie zwei Damen in ihrer Unterhaltung finden, dass man dem Aupairgirl nicht trauen könne, da man Farbigen grundsätzlich nicht trauen dürfe, und ihn dabei gleichzeitig anlächeln und sich für das Nachschenken bedanken. Er lernt, dass neben den offiziellen Vorschriften wie "Popcorn muss von links serviert werden" und "der Gast hat immer recht" auch inoffizielle Abläufe bestehen wie "Bei 75% Wahrscheinlichkeit, dass eine Gabel nicht benützt wurde, wird sie nicht abgewaschen", und "ein zu scharfes Gericht wird nicht neu zubereitet, sondern mit Schokoladensirup neutralisiert" etc. etc. Weniger lustig ist die Bezeichnung der Unterkunft für die zumeist farbigen Angestellten, nämlich "Monkey House" (Affenhaus). Bezeichnend dazu dürfte sein, dass nach Erscheinen dieser Story ein Mitglied dieses Clubs in einem Leserbrief nicht verstand, weshalb man sich über diese Bezeichnung entrüste, schliesslich hätte doch jedes Studio eine Dusche. Martin Luther Kings "I had a dream"?
Sicher werden jetzt einige Leser sagen, bei uns gibt es das nicht. Nun, über Personalunterkünfte - die zwar nicht Monkey-House genannt werden, aber noch weniger Komfort als ein solches auswiesen, wurde in S&P bereits geschrieben, und das letzte von Larry zum Thema Umgang mit Angestellten notierte Muster kennen wir hier auch: Er musste nach seinem Austritt 2 Monate auf seine letzte Salärauszahlung warten.
Multikulti Food ja, Multikulti-Gäste und -Angestellte nein?

Nicht nur über die Beziehung von Weiss und Schwarz ist in diesem Buch zu lesen, auch die Beziehungen von Schwarzen untereinander werden genau beobachtet, z.B. in Form einer Story, in der der Autor sich in Harlem für 80$ die Woche ein Zimmer mit einer einzigen 45 Watt Birne mietete (das 70$ Zimmer war ihm zu gefährlich) oder über die Schönheitsoperation seiner Nase, Michael Jackson lässt grüssen.

Insgesamt ein unterhaltsames Buch mit 12 nicht nur das Restaurant betreffenden Kurzgeschichten, die zum Nachdenken anregen: Lawrence Otis Graham. Member of the Club. Reflections on a life in a racially polarized world.
Nicht nur in den Sommerferien lesenswert.