1996 Genua

Vielfältiger Zwischenhalt

Von Mailand her kommend sind die letzten 30 km Autostrada - vor allem bei Regen - ein Horrortrip auf dem schon 50 km/h in gewissen Kurven einer Chilbifahrt in Nichts nachstehen. Ferientechniker, die sich in Genua auf die Fähre nach Elba oder Sardinien einschiffen, haben so gleich von Beginn weg Gesprächsstoff für die lange Überfahrt. Auch Traumschiff Zuschauer oder wirkliche Kreuzfahrt-Teilnehmer kennen den Hafen als Ausgangspunkt oder Endstation. Die wenigsten der Durchreisenden haben sich diese Stadt jedoch angeschaut. Einst eine reiche Hafenstadt mit Christoph Kolumbus als berühmtestem Sohn, strahlt sie heute die abbröckelnde Grazie einer alten Diva aus. Statt Schminke blättert der Verputz, und der Russ trägt zu den Altersflecken bei. Der Reiz verfallenden Reichtums. In den schmalen Gassen des Centro Storico, der grössten erhaltenen Altstadt Europas, schleicht Dich beim Eindunkeln ein leichtes Angstgefühl an, wie in einem alten Hafenstadt-Krimi mit Kapitän Long John Silver. Nur lösen heute keine einbeinigen Piraten, sondern die üblichen kleinkrimininellen Gross-Stadt-Subjekte diese Angstlust aus. Dieses kleine Risiko gehört mit zu diesem auch nach Sonnenuntergang in verschiedenster Hinsicht bunten Viertel und ist der Stoff, den man ein paar Jahre später seinen Enkeln erzählt. Je nach Strassenzug findet sich ein verhältnismäßig gesitteter italienischer "Letten", oder aber nordafrikanische Einwanderer neuerer Zeit gepaart mit dem Erbe italienischer Kolonialmacht in Form von farbenfrohen Mini-Märkten. Ebenso Damen und umgebaute Herren der Nacht, wie auch ganz normale junge Leute, die bis spät auf den Gassen palavernd so tun, als wären sie hier in Italien.
Auch tagsüber ist die Altstadt (speziell auch für Freunde von unzähligen frei lebenden Katzen) ausgedehnte Spaziergänge wert. Vorbei an Palazzis aus Marmor, Stuck und viel "trompe l'oeil", lässt sich der frühere Reichtum erahnen. Aber Achtung, die vielen herrenlosen Hundehäufchen erlauben keinen Hans-Guck-in-die-Luft Rundgang. Obwohl es im Salz&Pfeffer nicht um Sehenswürdigkeiten, Museen oder Postkartenansichten, sondern ums leibliche Wohl geht, schreiben wir hier nichts über die Tratto- und Pizzerias, die in den bekannten Guides, mit Sternen, Töpfen und Gabeln versehen, aufgeführt sind. Denn was unterscheidet schon Ravioli vom teuersten Italiener Zürichs von den Ravioli im teuersten Italiener Genuas? Nicht in einem solchen Guide aufgeführt dürften hingegen die italienischen Restaurants mit Hausfrauen-Küche sein, z.B. Giannas Cuccina Casalinga an der Vico delle Camelie. Giannas Tochter und weitere 4 Hände von echten Mammas kochen dort wie Zuhause. Eine Karte gibt es nicht. An der Wand wird ein sich täglich wechselndes Angebot angeschrieben. Eine bürgerliche Minestrone mit Reis, gewöhnungsbedürftige Ravioli mit Fisch, gut durchgekochte Spaghetti mit Moules, Zucchini und viel Rahm, danach Käse, Dessert, und Kaffee. Kosten zu zweit an einem mit Wachstuch gedeckten Tisch. 61 Tausend Lire. Und dazu gratis als Tischnachbarn die Arbeiter aus dem Quartier. Ähnliches wird auch in anderen kleinen Cucini wie z.B. Silvana an der Vico Dietro il coro san Cosimo geboten. Wohl schon bald in einem Guide wird die Ostaja du Castello an der Salita Santa Maria di Castello (Menu mit Wein ab 25'000 Lire pro Person) aufgeführt sein. Alles zu italienisch? Dann ein Abstecher zu einem Chinesen. Beim Hafen befinden sich deren zwei oder drei. Im ersten Stock mit Blick auf die Sopraelevata (wenn die Hässlichkeit einer Autobahn auf die Höhe des Tangentopoli schliessen lässt...) eine Suppe, danach einen Fried Rice und dazu ein Bier. Für zwei Personen 37500 Lire. Als Tischnachbarn Eingewanderte aus dem Quartier. Im Ta-Chung unter den Arkaden der Via Filipo Turati sind viele Italiener zu Gast. Zu Speziell? Dann bleiben z.B. die Take-Aways. Frittierte Fischli statt Pommes unter den Arkaden der Via Sottoripa, ein Stück Gemüse- oder Fleisch-Kuchen aus dem Holzofen an der Via S. Giorgio mit Blick auf den Drogendeal, oder eine Genueser Spezialität, das sehr salzige und ölige Fladenbrot, Foccacia genannt (Variationen: ganz flach natur oder mit Oliven garniert oder mit Käse oder knusprig getrocknet oder oder) z.B. aus der Panetteria Patrone in der Nähe des Gemüsemarktes der Via di Ravecca. In dieser Bäckerei sieht man noch, wie laufend frisch gebacken wird. Alles sehr feine fette Sünden. Die Häppchen kosten manchmal so wenig, dass man meint, der Verkäufer habe sich verrechnet. Solche kleinen Kalorien-Sünden kann eine Kerzenspende wieder vergeben. In der durchrationalisierten Kirche geht das so: Man werfe eine Münze in das Kässeli, betätige einen kleinen Schalter, und schon leuchtet eine Lampe in Kerzenform auf. Der Vatikan muss an einem AKW beteiligt sein.
Aber zurück zur unserem Spaziergang. Wohin geht "man" nachmittags, um eine Pause einzulegen? Zu Klainguti, dem ältesten Kaffeehaus der Stadt an der Via Canneto. Ein schweizerisches Auswandererprodukt von 1828 als Eidgenossen noch ohne EU Pass in der Fremde arbeiten durften. Die Spiegel im winzigen Teesalon mit den viel zu grossen Stühlen sind inzwischen alle blind. Genau richtig, um in Kombination mit den häubchentragenden Serviertöchtern (sorry Signor Eggli, aber bei einem so alten Haus sind es Serviertöchter und nicht Servicefachangestellte) den Gast zurück in die Zeiten zu beamen, als edle Signoras und reiche Handelsherren hier ihren Caffe´ mit einer Torta Zena zu sich nahmen. Diese Süssigkeit (mit einem Marzipan-Cover) wird auch heute noch verkauft. Die eleganten, in Italien lieber im Pelz als nackt auftretenden Signoras, sind in der aus bürgerlicher Sicht gefährlichen Altstadt hingegen rarer geworden. Man findet sie heute im Quartier der schicken Via Aprile und Via Roma in der Confetteria e Pasticceria Mangini. Dort, wie fast überall, kostet der Caffe´ stehend an der Bar etwa 1300 und sitzend 2500 Lire. Ein Marron-Glacé zum Caffe´ bleibt in guter Erinnerung.
Drei Häuser neben dem Klainguti liegt die älteste Pasticceria Genuas. Pietro Romanengo fu Stefano. Hier sind die Preise allerdings absolut von heute, wenn nicht gar von morgen. Ein Schächteli mit Hausspezialitäten wie z.B. eingemachten Früchten kostet 3 mal soviel wie ein Mittagessen bei Gianna.
Obwohl es sich bei Klainguti, Mangini, Romanengo und wie sie alle heissen, dem Namen nach um Caffe´s handelt, werden dort auch Drinks gemixt. Im Klainguti z.B. listet die Karte gegen einhundert verschiedene Aperos und Longdrinks aus aller Welt auf. Dazu werden appetitanregende oder - je nach gegessener Menge - appetitverderbende Salatinis mitserviert. Kleine Salzgebäcke in Form von Minipizzas, Miniwurstweggen oder Sardinchen im luftigen Teig. Die modernere Variante eines solchen Lokals nennt sich z.B. Doge Bar (beim Palazzo Ducale). Diese ist ihrer heissen Schokolade wegen in bester Erinnerung geblieben. Die zu bestellende Variante heisst con Panna. In vorgewärmter Tasse etwas Schokoladepulver, ganz wenig sehr heisser Milch und Schlagrahm. Das Ergebnis ist nicht das bekannte Rahmhäubchen, sondern eine Schlagrahmkugel, umgeben von konzentrierter heisser Schokolade. Der Nährwert dürfte einer Tripplerahm-Glace entsprechen.
Fast alle Bars haben heute hässliche Kühlvitrinen in die Theke eingebaut für ein mehr oder weniger breites und anmächeliges Sortiment an Wurstwaren, Käse und Sandwiches (Tramezzini) die unter weissen Tüchern frisch gehalten werden. Vollkornbrot-Anhänger müssen in Genua fasten oder für einmal über ihren Schatten auf die Weissbrot-Seite springen.
Sein und Disein trifft sich vor und nach dem Theater oder auch sonst des Abends in den Lokalen des immer schicker werdenden Altstadt-Teils beim Palazzo, z.B. im neu hergerichteten Caffe´ degli Specchi oder im Le Corbusier an der Via di San Donato, wo bei Dunkelheit der Schmuggel-Zigaretten-Händler steht. Nahe dem Theatro Tesso wird das Publikum auch vom neu eröffneten "J'aime les Crêpes" angezogen. Bis am späten Abend bevölkern Junge und Jung-gebliebene, eher nach italienischen Barden und Avanti Popolo gestilte, das Moretti an der Via Bernardo.

Schwer zu sagen, in welcher Disco man sich die Nacht um die Ohren schlagen soll. Seit neuestem nämlich gilt ein Gesetz, wonach diese um 1 Uhr keinen Alkohol mehr ausschenken, ab 2 Uhr die Lautstärke reduzieren und um 3 Uhr schliessen müssen. Man könnte glauben, die Funktionäre unseres Wirteverbandes seien in Italien tätig geworden ... So wird sich das echte Nachtleben versteckt in Kellern und Lagerhäusern abspielen. Die Lokalitäten werden beim - mit genügend Trinkgeld ausgestatteten - Concierge zu erfahren sein. Sputnik-TV ist in Genua nicht zu empfangen.
Jeder Aufenthalt hat einmal ein Ende. Wer von Genua aus direkt die Heimfahrt antritt, kauft sich zuvor noch ein paar frische Nudeln oder Ravioli, zum Beispiel beim Il Mattarello (der verrückte aufgestellt, die Teigwaren verrückt gut) an der Salita Pollaiuoli. Nach 4 - 5 Stunden Auto- oder 7 Stunden Bahnfahrt Zuhause angekommen, ist damit innert weniger Minuten ein bisschen Sehnsucht auf dem Teller.
Und noch etwas: Falls Sie mit dem Auto unterwegs sind und auch damit nach Hause fahren möchten, parkieren Sie es bitte in einer bewachten Garage, z.B. vis-à-vis der Doge-Bar...



Dankeschön an die Präsidialabteilung der Stadt Zürich. Kulturschaffenden stellt die Stadt Zürich in Genua ein Atelier zur Verfügung. So kommt ein Begleiter Zürcher Kulturschaffens zum Genua-Aufenthalt und Sie als S&P Leser zu diesen Zeilen.